Die große PIXXEL-Serie „Was ist eigentlich…?“ beschäftigt sich regelmäßig mit Fotografie-Techniken, die für jeden leicht umzusetzen sind und eine große Wirkung erzielen. In diesem Teil geht es um sogenannte „stürzende Linien“.

Stürzende Linien

Was sind stürzende Linien?

Der Effekt der stürzenden Linien tritt sehr häufig bei der Architekturfotografie auf. Dabei streben Linien oder Kanten, die der Realität parallel verlaufen, aufeinander zu. Das folgende Beispielbild verdeutlicht diesen Effekt.

Stürzende Linien

Der Kirchenturm in dem oben gezeigten Bild wird laut Abbildung nach oben hin schmaler – obwohl das – in der Realität – bei den wenigsten Kirchentürmen der Fall ist.

Stürzende Linien

In diesem Bild ist ein anderer Kirchenturm abgebildet. Bei diesem Foto tritt der Effekt der stürzenden Linien nicht auf.

Wie entstehen stürzende Linien?

Grundvoraussetzung für den Effekt der stürzenden Linien ist, dass ein Motiv oder eine Abbildung in der Realität parallele Kanten besitzt, wie das bei den meisten Gebäuden der Fall ist. Stürzende Linien treten dann auf, wenn der Abbildungsgegenstand (z. B. der Turm) und die Projektionsebene (die Kamera) nicht parallel zueinander ausgerichtet sind.

Folgende Skizze soll diese Problematik verdeutlichen:


Kamera 1 ist parallel zum Motiv ausgerichtet. In diesem Fall treten keine stürzenden Linien auf. Kamera 2 hingegen ist leicht nach oben geneigt. Die Projektionsebene und die Kamera sind nicht parallel zueinander ausgerichtet. Dadurch entsteht der Effekt der stürzenden Linien. Der Turm wird auf dem Foto der Kamera 2 nach oben hin schmaler.

Warum ist das Wissen über „stürzende Linien“ so wichtig?

Ganz einfach: Der Effekt stürzender Linien tritt beim Betrachten eines Fotos stärker auf, als in der Realität. Beim Fotografieren werden stürzende Linien oft nicht wahrgenommen, sondern erst hinterher, beim Betrachten des Fotos. Der Grund hierfür ist folgender: Stehen wir vor einem Gebäude und betrachten es aus der Froschperspektive, finden grob gesagt zwei Prozesse statt. Zuerst trifft das Motiv auf unsere Netzhaut. An dieser Stelle ist der Effekt der stürzenden Linien noch vorhanden. Anschließend verarbeitet unser Gehirn die Informationen. Da unser Denkapparat weiß, dass die Linien des Gebäudes eigentlich parallel verlaufen, wird der Effekt stark abgeschwächt. Ein Foto hingegen ist zweidimensional. Wir beurteilen unbewusst den Abstand der vorhandenen Linien und stellen dann fest, dass die Harmonie eines Fotos verloren geht.
Da also stürzende Linien schon beim Fotografieren nicht zwingend wahrgenommen werden, ist es wichtig, genau auf diese zu achten. Andernfalls droht bei der Bildsichtung das böse Erwachen.

Die Folgen stürzender Linien

Oft werden stürzende Linien als störend empfunden. Dem Betrachter eines Fotos wird suggeriert, dass das Motiv (bspw. ein Gebäude) nach hinten kippt. Oft geht dadurch die Bildharmonie verloren. Das Foto ist nicht mehr stimmig.

Stürzende Linien

Jedoch lässt sich der Effekt stürzender Linien auch positiv nutzen. Er stellt ein wichtiges Gestaltungsmittel in der Fotografie dar. Wenn es darum geht, Motive kreativ abzubilden, ist eine formgerechte Abbildung nicht immer die richtige Wahl. Das verdeutlicht folgendes Beispiel:

Stürzende Linien

Bei diesem Foto werfen stürzende Linien einen unheimlichen großen Interpretationsspielraum auf. Das imposante Gebäude wirkt noch größer und bedrohlicher, als es ist eigentlich schon ist.

Stürzende Linien vermeiden

Um stürzende Linien bereits vorab zu vermeiden, sollte man ein großes Augenmerk auf seine Standortwahl richten. Um die Kamera parallel zum Motiv zu positionieren ist es sinnvoll, einen größeren Abstand zum Abbildungsgegenstand zu nehmen und gegebenenfalls die Brennweite zu erhöhen. Wenn das Motiv im Bild dann nicht richtig positioniert ist: Keine Panik! Der Bildausschnitt sollte später in Photoshop & Co. angepasst werden. Der unten stehende Vergleich zeigt den Effekt.

Stürzende Linien

Des Weiteren bieten viele moderne DSLRs und Kompaktkameras die Möglichkeit, Hilfslinien im Sucher oder im Display anzeigen zu lassen. Anhand dieser Linien lassen sich nicht parallele Kanten schnell erkennen. Wer etwas tiefer in die Tasche greifen möchte, dem sind sogenannte Shift-Tilt-Objektive zu empfehlen. Bei diesen Objektiven lassen sich die Linsen senkrecht zur Bildachse verschieben.

Und wenn das Foto bereits im Kasten ist? – Dann lassen sich stürzende Linien wohl nur doch in der digitalen Nachbearbeitung ausbessern (in Photoshop: entzerren und kippen) Doch Vorsicht: Geht man nicht behutsam mit der Bearbeitung um, wird der Eindruck erweckt, als würde der Turm oder das Gebäude nach oben breiter werden, obwohl die Kanten in zweidimensionaler Ansicht parallel verlaufen.

Weitere Beiträge aus der „Was ist eigentlich…“-Serie:

Teil 1:Was ist eigentlich die „Blaue Stunde“?

Teil 2:Was ist eigentlich der „Goldene Schnitt“?

Teil 3:Was ist eigentlich die „Drittel-Regel“?

Teil 4:Was ist eigentlich eine „Diagonale“?

Teil 5:Was ist eigentlich „Motivüberlagerung“?

Teil 6:Was ist eigentlich die „perfekte Schärfeebene“?

Teil 7: Was sind eigentlich „stürzende Linien“?